Harald Welzer im Gespräch mit Hajo Schumacher
Deutschlands bekanntester Sozialpsychologe Harald Welzer spricht mit Moderator Hajo Schumacher unter anderem darüber, welche Chancen die Corona-Krise bietet und wie die Welt danach aussehen könnte.
Was macht uns Angst an der aktuellen Situation und wie können wir ihr am besten begegnen?
Diese und andere Fragen von Hajo Schumacher beantwortet Harald Welzer in LSB Insights.
Hajo Schumacher: Ich habe mich tatsächlich von Rezo beraten lassen, wie ein modernes Studio aussieht zum Zwecke der telekommunikativen Konferenz und ganz wichtig ist, dass ein Musikinstrument in der Ecke steht, deshalb habe ich dahinten so ein altes Tastengerät, und ein Mikrofon muss wie zufällig ins Bild hängen. Harald Welzer wiederum ist „old school“ unterwegs. Er zeigt, dass er Bücher besitzt. Das ist in Deutschland bei einem Wissenschaftler sozusagen Pflicht. Lieber Harald Welzer, wenn Sie sich umdrehen und Ihr Bücherregal so begutachten, was ist der Schwerpunkt der Werke? Ist das kirgisische Lyrik? Oder ist das vielleicht Heinz Bude? Oder Helmut Kohl? Keine Ahnung, was ist das?
Harald Welzer: Also im Grunde ist es ja eine Foto-Tapete (schmunzelt), da ist das jetzt schwierig zu sagen. Aber wie man vielleicht aus dem entfernten, optischen Eindruck sehen kann, bin ich zwar theoretisch ein Fan von Ordnungssystemen, die aber in der Praxis nie funktionieren. Und insofern ist da alles durcheinander.
Hajo Schumacher: Und vor allen Dingen, es gibt ja alphabetische Ordnung, es gibt Farbenordnung und bei Ihnen gibt es einfach keine Ordnung.
Harald Welzer: Nein, es gibt nur eine Ordnung, die sich von selber, naturwüchsig, evolutionär herstellt.
Hajo Schumacher: Aber wenn ich Sie jetzt fragen würde, wo steht dieses oder jenes Buch, wüssten Sie es dann mit einem Handgriff, weil Sie diese Nicht-Ordnung gemacht haben?
Harald Welzer: Ja, das ist eine interessante Frage, weil es ja tatsächlich Forschung darüber gibt, welche Ordnungssysteme effizienter sind. Und da gibt es sozusagen den Akten-Typ, der alles in Klarsichtfolien, in Akten und alphabetisch und so weiter, und es gibt diesen Typ, der eher meinem entspricht, also wo alles total chaotisch ist. Aber wenn man dann den Brief vom Finanzamt braucht und mit schlafwandlerischer Sicherheit in den 14 cm hohen Stapel auf dem Schreibtisch greift und man hat ihn in der Hand.
Hajo Schumacher: Ich weiß genau, wovon Sie sprechen. Das kann man aber anderen Menschen nicht begreiflich machen.
Harald Welzer: Das ist ja empirisch – es gibt ja wichtige Studien in der Wissenschaftsgeschichte, dazu gehört auch diese – ist festgestellt worden, dass diese Anarchen eine höhere Treffsicherheit und eine kürzere Suchgeschwindigkeit haben. Und zwar deswegen, das kann man sogar erklären, unser Gehirn funktioniert ja assoziativ und der anarchistische Ordnungsmensch erinnert sich daran, ich war gerade auf dem Klo und wollte den Brief vom Finanzamt lesen, da klingelte das Telefon und ich musste dahin und dann habe ich den Brief da abgelegt und dann haben sich diverse Hummusschichten darüber gelegt. Aber man kann sich daran erinnern, dass er da war.
Hajo Schumacher: Meine Damen und Herren, Sie sehen schon, mit Harald Welzer kann man über alles, aber wirklich auch alles anspruchsvoll sprechen, selbst über Briefe vom Finanzamt. Ganz herzlich willkommen erstmal. Sie sind zugeschaltet aus Berlin. Roland Vestring hat es ganz zurecht gesagt: Einer der bekanntesten, streitbarsten, originellsten Soziologen, die das Land zu bieten hat. Wir haben uns auch schon das eine oder andere Mal auf der einen oder anderen Bühne, ich sage mal, sportlich, unterhalten. Und wenn ich das persönlich sagen darf, ich schätze das sehr an Ihnen, man kann mit Ihnen streiten und hinterher ist alles wieder okay. Also man kann unterschiedliche Meinungen haben, man kann sich die auch in aller Deutlichkeit an den Kopf werfen, aber es wird nie persönlich. Und das ist einfach eine Art von Debattenkultur, die ich sehr, sehr schätze und die uns heute ja so ein bisschen abhandengekommen ist. Lieber Harald Welzer, ich weiß gar nicht mehr, wo ich es gelesen habe, aber ich glaube es war in der Süddeutschen Zeitung. Das deutsche Taxigewerbe hat ein Problem, weil der Soziologe an sich so gefragt ist, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Früher hieß es ja immer, das Soziologiestudium ist der sicherste Weg zum Personentransport. Heute haben wir Sie, wir haben Armin Nassehi, wir haben Heinz Bude und noch eine ganze Reihe mehr. Der Soziologe ist eigentlich so der Star-Geisteswissenschaftler unserer Tage. Wie konnte das passieren?
Harald Welzer: Ja, kann man schwer erklären. Ich meine, wir haben halt eine Phase von erhöhtem Deutungsbedarf. Es passieren viele Sachen, die man so auch noch nicht kannte und dann geht man sozusagen von der Annahme aus, da gibt es so eine Disziplin, die beschäftigt sich mit Menschen in sozialen Situationen, die müssen irgendwas dazu sagen können. Das hat eine Konjunktur, genauso wie die Virologen eine Konjunktur haben, und das wird dann irgendwann wieder verschwinden.
Hajo Schumacher: In Zeiten der Pandemie ist der Soziologe nach dem Virologen und vielleicht auch dem Psychologen gefragt. Was sind so Ihre soziologischen Erkenntnisse aus dem letzten halben Jahr?
Harald Welzer: Naja, die wichtigste Erkenntnis ist sicherlich, dass man an dieser Form von Krise ablesen kann, wie ungeheuer wichtig Erwartungssicherheit ist. Also diese Pandemie zeichnet sich ja dadurch aus, dass wir nicht wissen, wie es weitergeht. Und das ist furchtbar, das hält kaum jemand aus. Besonders in der ersten Phase war es so, also ich, und das wird vielen anderen genauso gegangen sein, habe pro Tag zehn Anrufe von Medien bekommen immer mit der Frage „Wie geht es denn nach der Krise weiter?“ Und wenn man dann gesagt hat „Keine Ahnung, wissen Sie es?“, dann waren die immer ganz „disappointed“. Das fanden sie nicht gut. Der Einzige der das natürlich souverän bedient hat, war Matthias Horx, (lacht) der gleich als allererstes um die Kurve gekommen ist mit einer Prognose, wie wunderbar im Herbst alles gewesen sein wird und wie gerne wir uns an diese Zeit zurückerinnern werden. Also eines der typischen, höchstvaliden Trendforschungsergebnisse, die dort mitgeteilt wurden. Aber ansonsten, und das gilt ja immer noch, weiß man ja nicht, wie es weitergeht. Und wir merken einen Teil der Verunsicherung, auch ein Teil der Unzufriedenheit mit der Situation, basiert eben auch darauf, dass wir das nicht tun können, worauf unser ganzes normales Alltagsleben basiert, nämlich zu wissen, was ist in drei Wochen, was ist in drei Monaten, wann habe ich Urlaub, wann gehe ich in Rente, und so weiter. Und das ist natürlich wirklich interessant, weil wir normalweise so einen Mythos haben, Menschen sind kurzfristig interessiert, sie interessieren sich für die Gegenwart und Zukunft spielt nicht so die große Rolle. Wir lernen an so einem Beispiel, dass Zukunft die entscheidende Kategorie ist, denn daraus leitet sich alles ab. Wie ich eine Gegenwart wahrnehme, wie ich das interpretiere, was ich für Schlussfolgerungen ziehe, was ich für Entscheidungen treffe.
Hajo Schumacher: Lassen Sie uns mal einen Blick zurück wagen. Der Steinzeit Mensch, oder vielleicht auch noch der mittelalterliche Mensch, der hatte doch diese Erwartungssicherheit auch nicht. Der wusste ja auch nicht, ob nächste Woche die Pest vorbeikommt oder die Räuber oder der böse Wolf. Also das Leben in Unsicherheit war doch für die längste Zeit der Menschheit das Normale. Seit wann sind wir so sicherheitsfanatisch? Oder ist das irgendwo eingebaut in uns?
Harald Welzer: Naja, eigentlich ist das ein Ergebnis von erhöhter Sicherheit. Also ich glaube, dass der historische Vergleich stimmt, der stimmt aber auch deswegen, weil leben zu anderen Zeiten erheblich unsicherer gewesen ist. Man denke nur an die Kindersterblichkeit. Der größte Teil der Kinder überlebte das erste oder zweite Lebensjahr nicht, die sterben. Also gehört der Tod von Kindern zum Leben dazu, zum Erwartungshorizont dazu. Die werden nicht groß. Wenn man Glück hat, werden zwei groß, die anderen nicht. Dasselbe gilt für die eigene Lebenserwartung. In Zeiten, wo man an einer Wurzelentzündung stirbt, ist die Perspektive auf das lange Leben gar nicht vorhanden. Wenn es passiert, ist es super. Das sind dann die Ausnahme-Personen. Das ist übrigens interessant, weil Leute das immer verwechseln: Menschen sind früher genauso alt geworden wie heute. Also es ist nicht so, dass eine erhöhte Lebenserwartung bedeutet, die sind früher alle jung gestorben. Die Mehrheit ist jung gestorben, aber es gab medizinisch betrachtet, biologisch betrachtet, gab es sehr alte Menschen auch schon zu früheren Zeiten. Nur, alles das, was während der Lebenszeit passieren kann, ist viel, viel mehr als es heute der Fall ist. Oder Gewalt. Wir haben natürlich zu anderen, historischen Zeiten ein viel höheres Gewaltniveau. Die Gefahr tot geschlagen zu werden, ist extrem viel höher als heute. Jetzt leben wir, insbesondere in der westlichen Nachkriegszeit und den zugehörigen Gesellschaften, in der sichersten Welt, die es überhaupt gibt und paradoxerweise steigt damit auch die Erwartung an Sicherheit bzw. die Angst vor Unsicherheit. Und deshalb sind Leute ja versichert. Das ist ja das Business der Versicherungen, die hat es ja früher auch nicht gegeben. Und deshalb ist eben auch dieses Bedürfnis nach Erwartungssicherheit so ungeheuer groß, so sehr intensiv. Am liebsten würde man sich ja gegen das Virus versichern, oder gegen Putin oder gegen Donald Trump oder überhaupt gegen alle Unbill, die es auf der Welt gibt. Darauf wäre früher in der Tat niemand gekommen.
Hajo Schumacher: Sagen Sie, private Frage, wie sind Sie denn so versichert? Der Deutsche gilt ja generell als über-versichert. Ist Harald Welzer auch potentielle Beute für den Allianz-Vertreter? Oder haben Sie nur so die Mindestausstattung?
Harald Welzer: Ich habe die Mindestausstattung (lacht).
Hajo Schumacher: Was Sie mir nochmal erklären müssen: Als Ihr Hauptwerk gilt das kommunikative Gedächtnis. Da haben Sie sich in Ihrer Habilitation damit befasst, wie funktioniert Erinnern oder Erinnerung. Und schlichte Gemüter wie ich stellen sich das Gedächtnis ein bisschen so vor wie eine Festplatte, wie beim Computer, da kann man alles mal so drauf schieben, was man gerade nicht braucht und das bleibt dann da und meistens findet man es irgendwie wieder. Aber das Gedächtnis funktioniert gar nicht so, oder?
Harald Welzer: Nein, also vielleicht ein kleiner Einwand: Es gibt zwar dieses Buch „Das Kommunikative Gedächtnis“, das ist aber keine Habilitationsschrift gewesen. Das steht irgendwo, das stimmt aber nicht, ich habe mich, ich sage das jetzt nur weil es für die Gegenwart interessant ist, meine Habilitationsschrift über biographische Wandlungsprozesse geschrieben. Also was passiert im Leben, damit Menschen sich verändern. Arbeitslosigkeit, Scheidung, schwere Krankheit, solche Dinge. Und das finde ich jetzt wiederum für mich interessanter als die Gedächtnisfrage. Das Buch gab es und das interessante beim Gedächtnis ist, und das passt zu dem worüber wir schon gesprochen haben, das Gedächtnis ist ja total opportunistisch, es ist absolut opportunistisch. Sie erinnern sich an Sachen immer durch den Filter Ihrer gegenwärtigen Bedürfnisse. Also wir greifen zum Beispiel an die Erinnerung auf eine Liebesbeziehung zurück, wenn jetzt gerade Probleme mit der gegenwärtigen Beziehung auftreten. Dann denkt man, mit Monika, das war aber echt der Knall im All oder sowas in der Art. Während, wenn die Beziehung, die jetzt gerade krisenhaft ist, begonnen hat, würde man gedacht haben, mein Gott, bin ich froh, dass ich Monika los bin. Und das ist wirklich, es ist ja alles auf der Welt empirisch untersucht, aber das ist sehr, sehr gut untersucht. Wo man gerade bei Paarbeziehungen gefragt hat, in welcher Situation sich die beiden Partner kennengelernt haben. Und wenn die Beziehung stabil gewesen ist und noch bestand, wurde immer eine sehr schöne Geschichte erzählt. Und wenn die schon gecrasht ist, wurde eine sehr furchtbare Geschichte erzählt: „Ich habe schon im ersten Moment gewusst, das ist der größte Idiot, den ich je in meinem Leben gesehen habe. Wie der schon in die Bar reinkam“, und so. Und Sie haben sehr viele Untersuchungen darüber, wie Menschen Katastrophenereignisse erinnern. Also 9/11 oder die berühmteste Untersuchung ist über den Mord an Olof Palme in Schweden. Und da gibt es dann immer die Frage, wo waren Sie als die Twin Towers einstürzten oder so. Und die Untersuchungen sind immer so angelegt, dass man das unmittelbar nach dem Ereignis gefragt hat und dann im Zeitverlauf wieder. Und es ist total erstaunlich, weil die Situation in der man sich befunden hat und wovon man 100%ig überzeugt ist, dass sie exakt so war, verändert sich im Zeitverlauf. Und das hat etwas damit zu tun, dass die Erinnerung, die Deutung des Ereignisses, sozial standardisiert wird. Irgendwann weiß man, das war ein Epochenbruch, das war total furchtbar und folgenreich und deshalb hat man, wie soll ich sagen, ein Re-Design der Situation in der man das damals erlebt und erfahren hat. Und das haben Sie bei School-Shootings, wo Kinder sich erinnern, wie die Attentäter reingekommen sind, die an dem Tag nachweislich krank zu Hause im Bett gelegen haben und all solche Dinge.
Hajo Schumacher: Das heißt aber für die Pandemie jetzt, wenn ich einigermaßen, ich sage mal, ohne nahe Angehörige zu verlieren, ohne eine Insolvenz hinzulegen durch die Corona-Jahre gekommen bin, dann werde ich die ganz anders in meinem Gedächtnis abspeichern als jemand, der was verloren hat oder gelitten hat.
Harald Welzer: Naja, natürlich, und vor allem, das ist ein wichtiger Hinweis, jeder Erinnerungsinhalt ist emotional codiert. Also das ist immer mit einer Emotion verbunden. Wenn das so nicht wäre, oder beziehungsweise, wenn das nicht der Fall ist, erinnern wir uns nicht. Sachen, die uns emotional gleichgültig sind, also was lag heute morgen auf dem Brötchen, da würde man sich nur daran erinnern, wenn man danach eine schwere Magen-Darm-Geschichte gehabt hätte. Wir erinnern uns an die Fischvergiftung, aber wir erinnern uns wenig an das Fischessen, bei dem nichts weiter passiert ist. Und das ist ein ganz entscheidender Faktor, weil es eigentlich nichts gibt in unserem abrufbaren Gedächtnis, was nicht einen emotionalen Code hat, Plus oder Minus. Das ist einfach zu erklären, warum das so ist, denn das hat einen Überlebenswert. Deshalb ist 90%, 95% von dem was wir erleben, was wir wahrnehmen, ist einfach weg.
Hajo Schumacher: Wir wollen dafür sorgen, dass es mit diesem Gespräch hier anders ist, dass es in der Erinnerung der Teilnehmenden verankert bleibt.
Harald Welzer: Ach, ich bin da relativ entspannt.
Hajo Schumacher: Dazu trägt auf jeden Fall die Frage von Hans-Jürgen Kleebinder bei. Ganz herzlichen Dank dafür, Sie haben gleich schon mal die Chance wahrgenommen, ohne dass ich Schussel Sie daran erinnert habe, dass sie natürlich Fragen stellen können im laufenden Prozess. Die Frage von Herrn Kleebinder lautet: „Was macht die Einschränkung unserer Mobilität mit unserer Autonomie? Oder unserem Gefühl von Autonomie? Wie verändert sich dadurch unser Verhalten, unsere Einschätzung, unsere Wertschätzung von Mobilität?“
Harald Welzer: Keine Ahnung.
Hajo Schumacher: Meine Damen und Herren, ein Professor, der sagt „keine Ahnung“, auch das hat, ich möchte mal sagen, ein gewisses Maß an Stil. Aber lassen Sie uns da mal ran robben. Man hat ja an manchen Tagen den Eindruck, dass es so eine Art Grundrecht auf mindestens drei Mal Urlaub, idealerweise in fernen Ländern, in Deutschland gibt. Also der Deutsche und sein Urlaub das ist ja ein ganz erotisches und fast ein Rechtsanspruchs-Verhältnis. Woher kommt das Herr Welzer?
Harald Welzer: Naja, das ist ganz einfach zu erklären. Wenn sich bestimmte Verhaltensweisen zum Standard erhoben haben, also wenn es möglich ist, für die breitesten Bevölkerungsgruppen mehrmals im Jahr Urlaub zu machen, dann hält man das für ein gefühltes Recht und für ein extremes Defizit. Wenn man jetzt Ihren Vergleich historisch machen würde und fragen, wie oft haben denn Menschen früher Urlaub gemacht, dann würde man feststellen: fast gar nicht, oder sowas wie die Ferienreise, der Urlaub, das ist für bis auf den Adel, der sich im Sommer auf den Landsitz verzieht, ist das die absolute Ausnahme. Die Mehrheit der Bevölkerung macht keinen Urlaub, es gibt sowas wie Ferien nicht. Das sind alles Dinge, die sind im 20. Jahrhundert und dann erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts breitenwirksam geworden. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass der Standard, der dann einmal existiert in dem Augenblick, in dem etwas davon in Frage gestellt wird, wird es als Verlust und Verzicht wahrgenommen, klar.
Hajo Schumacher: Und können Sie das nachvollziehen, dass dieses Urlaubsthema, Stichwort Beherbungsverbot, wir sind mitten in den Herbstferien in vielen Bundesländern, ist das vielleicht auch so eine Übersprunghandlung, dass der Urlaub auch für andere Freiheiten steht, die jetzt eingeschränkt sind.
Harald Welzer: Naja, ich glaube, daran wird es einfach am deutlichsten. Wir haben ja in der Bundesrepublik keinen wirklichen Lockdown erlebt. Das war ja in Spanien beispielsweise, oder in Italien, eine ganz andere Geschichte. Also das worüber Menschen sich hier beklagen, hatte dort eine ganz andre Dimension. Dass man die Wohnung buchstäblich nicht verlassen durfte, oder dass man nur als Einzelperson im Auto fahren durfte und auch nur, um etwas einzukaufen, nachweislich, etc. etc. Eine ganz andere Situation. So und wir sind hier durch die erste Phase der Krise auf einem relativ hohen und freien Niveau tatsächlich noch gekommen. Und dann ist natürlich das, was in Deutschland ein gefühltes Recht ist, nämlich in Urlaub zu fahren, war dadurch schon eingeschränkt. Ich glaube, jetzt haben wir eine komplizierte Situation, weil die Menschen sich daran gewöhnt haben, dass sie jetzt für dieses Jahr, vielleicht auch das nächste, mal die Fernreise oder die Reise ins europäische Ausland knicken können. Und dann haben sie sich gedacht, naja, in Schleswig-Holstein ist es auch ganz schön, da kann man mal nach Eckernförde, nach Flensburg und da soll es auch ein Meer geben und solche Sachen. Nicht so ein schönes großes, sondern ein kleines, aber immerhin....
Hajo Schumacher: ...wie in Ostsee...
Harald Welzer: Ostsee und Nordsee gibt es auch und solche Dinge. Und dann haben sie sich darauf eingestellt, okay das machen wir mal, ist auch einfacher, man kommt schnell hin und so weiter. Und jetzt, ausgerechnet zu den Herbstferien, dürfen sie das nicht, und dass das rein planerisch und auch von den Erwartungen und von den Aussichten auf ein paar schöne Tage wirklich wie ein Schlag vor den Kopf ist, das kann man nachvollziehen. Weil man dann automatisch sagen würde, da hätte ich auch nach Teneriffa fliegen können. Das ist auch Risikogebiet, aber physisch komme ich da ja hin, man muss nur hinterher in Quarantäne. Nur wenn ich aus Schleswig-Holstein nicht mehr wegkomme oder wie auch immer, dann wird das ganze etwas unübersichtlich.
Hajo Schumacher: Lassen Sie uns von Schleswig-Holstein in eine andere bedeutende Gegend der Welt kommen, in die Vereinigten Staaten von Amerika. Das war eine gute Überleitung, würde Verona Poth jetzt sagen.
Harald Welzer: Fantastisch. Ich bin nahezu sprachlos.
Hajo Schumacher: In drei Wochen wählen die Amerikaner und wir erleben dort etwas, was sicher auch für den Sozialpsychologen Harald Welzer von großem Interesse ist, nämlich diese doch sehr extreme Polarisierung der Gesellschaft. Das Verschwinden der Mitte. Es gibt die Roten, es gibt die Blauen und es gibt einen diffusen Rest, der sich etwas angeekelt abwendet. Was mich wundert dabei, und dazu gibt es jetzt wohl auch ein paar neuere Studien, ist, wie stark das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit ist und dieses Bedürfnis scheint noch stärker als der Verstand zu sein. Der Verstand sagt, so einen Lügner wie Trump kann man nicht wählen, aber ich möchte irgendwie zu dem Clan gehören. Oder ich lehne die andere Seite - Biden oder vor vier Jahren Hillary, war glaube ich noch viel extremer - lehne ich ab. Das heißt aber die Emotionen, dieses soziale Beisammensein ist wichtiger als die Ratio, auf die wir uns immer viel einbilden. Wie erklären Sie sich dieses Vergiftete im amerikanischen Wahlkampf? Kommt das daher?
Harald Welzer: Vielleicht zwei Dinge dazu, weil die mich wirklich auch beschäftigen. Das eine ist, dass man sehen muss, in welch unglaublich erfolgreicher Art Donald Trump und seinesgleichen die politische Kultur verändert haben. Das ist unfassbar. Ich finde es total interessant, dass hierzulande dieses Fernsehduell eher betrachtet wurde, wer hat da jetzt die besten Karten gehabt, was sagen die Wähler hinterher, wen fanden sie besser. Ich habe mir das angeguckt und gesagt, das ist der tiefste Punkt der politischen Kultur und Donald Trump war unfassbar erfolgreich in dem Sinne, dass Joe Biden sich genauso scheiße verhalten hat wie er.
Hajo Schumacher: Er hat ihn mitruntergezogen.
Harald Welzer: Ja, man muss sich ja mal vorstellen, es reden hier Präsidentschaftskandidaten also Kandidaten für das höchste repräsentative Amt, eines der höchsten repräsentativen Ämter, die es auf der Welt überhaupt gibt und da sagt einer der Kandidaten „Shut up, man“. Das ist etwas, was wir vor wenigen Jahren für völlig undenkbar gehalten hätten. Joe Biden wäre von der politischen Bildfläche verschwunden. Heute ist es normal und das ist aber Ergebnis von Trump‘scher Erfolgspolitik. Genauso wie die Demokraten einen Wahlkampf machen - auch das habe ich nicht verstanden, wie das beispielsweise in der deutschen Medienlandschaft betrachtet wurde - der eins zu eins eine Spiegelung des Trump‘schen Wahlkampfes ist in der ganzen Metaphorik von Licht und Schatten, Gut und Böse. Das heißt hier wird binär argumentiert, nicht demokratisch, nicht aufgeklärt, nicht politisch, sondern es geht Gut gegen Böse und dieser Niedergang der politischen Kultur ist viel schlimmer als das Phänomen Trump, der Typ an sich, weil ich glaube, die Amerikaner kommen da nicht wieder raus, auf jeden Fall nicht auf absehbare Zeit oder ohne eine wirklich große Katastrophe im Sinne eines Bürgerkrieges oder sonst was. Da steckt man jetzt total tief drin in der Situation. Zweiter Punkt, völlig richtig was Sie jetzt beschrieben haben. Der politische Erfolg von Donald Trump geht allem Anschein nach darauf zurück, dass er in der Lage ist, Communities zu bilden, also Gemeinden. Und wenn ich Angehöriger einer Gemeinde bin, dann ist mir das eigentlich mehr oder weniger egal, ob der Führer der Gemeinde jetzt die ganze Zeit hochrationale und nachvollziehbare Sachen macht. Nein, er muss eine Figur repräsentieren, die das tut, was ich auch gerne tun würde, nämlich den Chinesen, den Mächtigen, keine Ahnung, wenn man Antisemit ist, den Juden irgendwie ordentlich contra zu geben oder eine Politik gegen Menschen, nicht für Menschen, gegen Menschen Politik zu machen, weil ich dann sagen kann, gegen die bin ich auch alle und hier ist endlich mal einer, und dann sind da ganz viele, die sind da genauso wie ich und ich kann jetzt Teil einer Gemeinde sein von dem die anderen auch ein Teil sind und wir haben sogar einen da vorne, der sagt, was Sache ist, der ist bereit, Konflikte einzugehen, der macht mal einen Handelskrieg, der beschimpft Angela Merkel und so. Super Sache. Und deshalb ist sozusagen die alte Überlegung, Mensch, der schadet doch den amerikanischen Arbeitern, denen, die ihn wählen, das ist eine Überlegung, die wurde im Grunde genommen schon in Bezug auf den Hitler-Faschismus angestellt, wo Theoretiker von links festgestellt haben, seltsam, die Proletarier wählen gegen ihre eigenen Interessen. Ja, aber sie haben deswegen Hitler zugestimmt, weil Hitler und der NSDAP genau dasselbe gelungen ist, nämlich eine Form von Gemeinde, mit dem wunderbaren Begriff und Bild der Volksgemeinschaft übrigens, da hat man es. Und das Zentrale ist, bei der Bildung von Gemeinden muss ich eine klare Unterscheidung treffen zwischen Zugehörigen und nicht Zugehörigen, und je mehr ich mich ausgrenzend, abwertend, aggressiv gegenüber den nicht Zugehörigen verhalte, desto enger wird der Zusammenschluss zwischen denjenigen, die die Gemeinde bilden. Das ist das große Geheimnis. Und letzter Punkt dazu, genau das hat etwas damit zu tun, das hat Hannah Arendt in den 40er Jahren geschrieben, die Vereinsamung der Menschen ist sozusagen die größte Herausforderung an die Politik, denn die Vereinsamung bildet die Basis dafür, dass das Bedürfnis zu einer Gemeinde zu gehören so ungeheuer intensiv ist und wahrscheinlich haben wir eine vergleichbare Situation heute, also in den USA.
Hajo Schumacher: Kurze Anmerkung mit der Bitte um Bestätigung: Die Maske, also die Maske zur Corona-Vorsorge, hat sich auch in diesem Kontext der Trump’schen Gemeinden-Bildung zu so einer Art Symbol entwickelt. Trage ich eine Maske, bin ich Team Biden, trage ich keine Maske, bin ich Team Trump. Deswegen darf der eigentlich auch nur in äußersten Notfällen eine Maske tragen, der Trump, weil das ist so das sichtbare Zeichen von Gemeinden-Zugehörigkeit.
Harald Welzer: Ja, das kann man so sehen.
Hajo Schumacher: Sehen Sie Parallelen? Also alles was aus Amerika kommt – das Surfbrett, Coca-Cola, Musik – kommt früher oder später in abgewandelter Form auch nach Deutschland? Haben Sie das Gefühl, dass das ein Trend ist, der sich auch früher oder später bei uns so niederschlagen wird? Oder hängt das doch sehr an dieser Figur Trump?
Harald Welzer: Ich glaube, es hängt sehr stark an dem Zerfall der amerikanischen Gesellschaft, der lange vor Trump angefangen hat. Sonst gäbe es Trump nicht. Also Trump ist zwar eine Ausnahmefigur, aber solche Ausnahmefiguren haben historisch nur eine Chance, wenn die Situation eh schon so ist, dass man so eine Ausnahmefigur haben will. Und der Zerfall der amerikanischen Gesellschaft geht schon ganz lange vor sich. Also, dass sozusagen das eine Nation ist, wo das Selbstbild der Mitglieder dieser Nation mit der Gesamtvorstellung, wer sind wir, also sozusagen God’s Own Country, der Hort der Freiheit, das Land das anderen sozusagen hilft, sie vom Faschismus befreit, alles mögliche und gleichzeitig wirtschaftlichen Wohlstand herstellt, das ist mit all den Ereignissen seit dem Vietnam-Krieg sozusagen zunehmend fragil geworden. Dann kommt 9/11 als eine ganz große Kränkung, dann kommen kriegerische Handlungen, die die Gesellschaft schon damals begonnen haben zu spalten, wie eben „The War against Terror“, George W. Bush, und all diese Sachen, wirtschaftliche Probleme, das reicher werden der Super-Reichen, und so weiter und so weiter. Es ist eine ganz lange Geschichte des Zerfalls des Zusammenhalts in dieser Gesellschaft, wo Trump nur den vorläufigen Höhepunkt bildet. Wir stehen Gott sei Dank noch etwas anders da, weil unsere politische Kultur nie in diesem Maße angegriffen worden ist und zahlenmäßig nie relevant gewesen ist. Die Menschen in diesem Land haben ein hohes Systemvertrauen, was man daran sieht, dass jetzt in der Krise die Zustimmung zur CDU wahnsinnig hoch geworden ist, und so weiter. Das ist Ausdruck von Systemvertrauen. Da denken sich die Leute, ach, aha, wenn es hart auf hart komm, dann funktioniert unser Laden und dann möchte ich doch lieber, dass das hier so bleibt und die Institutionen stark werden, anstatt, dass ich so einen Zerstörungsprozess habe wie in den USA. Wobei man dann noch darauf hinweisen muss, dass die sozialen Sicherungssysteme in einer Gesellschaft von elementarer Bedeutung für die Systemzustimmung sind. Das sieht man in den USA auch, ich meine, da ist man „lost“, da ist man verloren, wenn man aus dem System rausfällt.
Hajo Schumacher: Meine Damen und Herren Zuschauenden, letzte Chance, noch ein paar Knaller-Fragen an Harald Welzer loszuwerden. Über die Chat-Funktion bitte, ich leite das dann weiter. Lieber Harald Welzer, wir wählen in einem knappen Jahr auch hier in Deutschland eine neue Regierung. Eine Frau, die uns ganz viel Erwartungssicherheit geschenkt hat und Systemvertrauen, wird nach 16 Jahren Kanzlerinnenschaft abtreten. Was macht das mit uns Deutschen, die wir über Angela Merkel immer gut meckern können, aber in Wirklichkeit ganz froh sind, dass wir sie haben. Wir steuern ja jetzt in unsichere Zeiten. Wir sind sogar schon bereit, Markus Söder zu akzeptieren. Das ist für mich ein Krisen-Symptom, das wäre vor zwei, drei Jahren völlig undenkbar gewesen. Was erwarten Sie so für die Stimmung im Land für den Wahlkampf? Drei Kandidaten aus NRW. Auch das so eine komische Unwucht, alles alte, weiße Männer. Müssen wir uns auf ungemütliche Zeiten einstellen, oder bleibt das Systemvertrauen?
Harald Welzer: Ja, also das hängt bei mir ein bisschen von der Tagesform ab, wie ich solche Fragen beantworte. Ich würde denken, dass das Systemvertrauen so stark ist, und dass selbst solche, in vielerlei Hinsicht nicht überzeugenden Kandidaten wie die genannten alten, weißen Männer aus Nordrhein-Westfalen oder sowas, nicht so schlimm sind. Bei Angela Merkel war es ja eigentlich auch so, dass ihr niemand, also niemand hätte ihr damals zugetraut 16 Jahre lang Bundeskanzlerin zu werden und man war ja, wenn man von der sozialdemokratischen, von der grünen Seite her diese Wahl betrachtet hat, dachte man „Um Gottes Willen, das kann ja nichts werden“. Und dann hat man das Phänomen, erstens, dass man Leute unterschätzt, zweitens, dass man gerade in Krisensituationen eben nicht die Macher braucht, weil die sind ja zu blind. Also jemand, der nur auf sich selber guckt, oder nach dem für ihn gelernten Schema operiert, mit dem können Sie in einer Krise gar nichts anfangen. Sie brauchen eigentlich eine nicht so charismatische Figur, die rational handelt, und die vielleicht auch in der Lage ist, Kräfte zu bündeln und nicht, irgendwelche Polarisierungen herzustellen. Insofern ist das mit diesen nicht-charismatischen Kandidaten gar nicht mal so schlecht. Und wer wirklich dezidiert für eine Vergangenheit steht, mit der man gar nichts mehr anfangen kann, ist dieser, wie heißt der, ich habe es schon vergessen, Merz?
Hajo Schumacher: Ja, ja, ja. Der hat nach wie vor eine große Anhängerschaft.
Harald Welzer: Ja, aber das ist sozusagen die Welt von gestern. Das ist 20. Jahrhundert. Der hat ja nicht mal genug Durchsetzungsfähigkeit, dass er es 16 Jahre nicht geschafft hat unter der Kanzlerin nicht zu leiden. Und in dem Augenblick wo sie gesagt hat, ich trete ab, kommt er wie Kai aus der Kiste. Da würde ich doch sagen, will man denn eigentlich so jemandem die Führung eines Landes anvertrauen. Das kann ja nicht sein. Das müssen ja selbst noch die unter uneingelösten Omnipotenz-Phantasien leidenden CDU-Männer einsehen. Das ist nicht erfolgreich, dieses Konzept.
Hajo Schumacher: Lieber Harald Welzer, zum Schluss machen Sie doch mal den Horx: Was kriegen wir für eine Koalition in zwölf Monaten? Haben wir wie die ZEIT seit 20 Jahren träumt dann endlich Schwarz-Grün? Oder kriegt Olaf Scholz tatsächlich so eine rot-rot-grüne Mehrheit? Oder vielleicht auch grün-rot-rot und dann heißt die Kanzlerin Annalena Baerbock.
Harald Welzer: Naja, bei Grün-Rot-Rot hätten wir dann Berliner Verhältnisse auf Bundesebene das kann ich jetzt als Berliner nicht optimistisch betrachten. Also meine Horx’sche Prognose wäre, es wird Schwarz-Grün und alles wird wahnsinnig schön werden.
Hajo Schumacher: Unter einem Kanzler....
Harald Welzer: ...unter einem Kanzler Söder.
Hajo Schumacher: Söder wird Kanzler der schwarz-grünen Koalition? Das ist doch mal eine mutige Prognose. Lieber Roland Vestring, jetzt würden wir gerne ihre hören. Ganz herzlichen Dank an Harald Welzer. Ich habe nicht zu viel versprochen. Ein wunderbarer Gesprächspartner. Manchmal steile Thesen, manchmal kluge These, ach, immer kluge Thesen. Entschuldigung, was hätte ich da fast gesagt. Ein Mann, den Sie vielleicht in der Versicherungswirtschaft nicht unbedingt einladen sollten, weil er ist unterversichert. Ich glaube, da geht noch ein bisschen was. Mit diesen Basistarifen kommen wir nicht weit. Lieber Roland Vestring, das waren die Insights von hier aus Berlin. Ich gebe zurück ins Studio.