Günther Oettinger im Gespräch mit Hajo Schumacher
Günther Oettinger, früherer EU-Kommissar und baden-württembergischer Ministerpräsident a.D., spricht mit Moderator Hajo Schumacher über die Situation in Zeiten von Corona in Deutschland und Europa.
Wie bewertet der ehemalige EU-Digital-Kommissar den Stand der Digitalisierung in Deutschland? Wo sieht er Defizite und wo sieht er uns auf dem richtigen Weg?
Können wir die Krise als Staatengemeinschaft bewältigen? Welche Auswirkungen wird die Corona-Krise auf das europäische Miteinander haben? Und sieht er vielleicht sogar Chancen in der Corona-Krise?
Was verschlägt einen Schwaben nach Hamburg und wie sieht sein neues Leben als Nord-Süddeutscher nach seinem Abschied aus Brüssel aus?
Mit Hajo Schumacher spricht er auch über seine berufliche Zukunft und darüber, was Ursula von der Leyen damit zu tun hat.
Hajo Schumacher: Ja, herzlich Willkommen, ich freue mich sehr. Günther Oettinger, als wir das letzte Mal sprachen, waren Sie noch EU-Kommissar und haben noch so ein bisschen im Unklaren gelassen, wie es weitergeht. Heute wissen wir, Oettinger Consulting ist eine der ganz großen Beratungsfirmen in Deutschland. Wenn es irgendein Problem, irgendeine Frage gibt, dann zu Ihnen. Interessanterweise in Hamburg, Herr Oettinger. Sie kommen ja aus Ditzingen, Herr Oettinger, und gelten als Brüssels prominentester Schwabe, nach wie vor. Wie geht’s Ihnen jetzt in Zeiten von Corona? Wie laufen die Geschäfte? Müssen wir uns Sorgen machen?
Günther Oettinger: Guten Morgen, lieber Herr Schumacher, lieber Herr Vestring, meine Damen und Herren. Nein, keine Sorgen. Corona verändert den Arbeitsrhythmus, manches wird zu Hause gemacht, Mobilität ist erschwert, man fährt mehr Auto, ab und zu Zug, man fliegt kaum noch und ich hoffe, dass sich die Dinge bald normalisieren. Und ansonsten, auch ein Schwabe kann sich in Hamburg wohlfühlen, denn die Autos aus Stuttgart werden vom Hamburger Hafen in die Welt exportiert.
Hajo Schumacher: Irgendwo ist immer ein Stückchen Stuttgart, das ist einfach so. Sagen Sie, ganz persönlich, wie haben Sie die letzten zehn Wochen zugebracht? Sie waren wie wir alle in Quarantäne. Was macht ein Ex-Kommissar? Lesen Sie dann auf einmal die Biografie von Angela Merkel noch einmal durch? Oder arbeiten Sie an Ihrer eigenen? Womit haben Sie sich die Zeit vertrieben?
Günther Oettinger: Zum einen, in der Tat, ich lese mehr als jemals zuvor. Auch Wirtschaftszeitschriften, auch mehr Feuilleton und Kultur und daneben bin ich viel unterwegs. Viele Bausteine meiner jetzigen und künftigen Tätigkeit sind auf dem Tisch und müssen konkretisiert werden. Deswegen München, Stuttgart, Frankfurt, Berlin und ich möchte auch weiter am Puls der Politik bleibe. Das heißt, zwei Tage in Brüssel im Monat und zwei, drei Tage in Berlin sind mir wichtig. Daneben die Lebensgefährtin in Hamburg oder im Oldenburger Münsterland und ein Freundeskreis in Heilbronn, Ludwigsburg, Tübingen, Stuttgart. Mein Sohn wohnt in Tübingen, deswegen, ich bin ein Nord-Süddeutscher, der gerne auch in Europa unterwegs bleibt.
Hajo Schumacher: Mit Ihrem internationalen, insbesondere Brüsseler Blick, wie würden Sie sagen, hat Deutschland die letzten drei Monate Corona bewältigt?
Günther Oettinger: Wir haben ja eine föderale Struktur Deutschlands. Einerseits die Bundesregierung, 16 starke Länder und ihre Regierungen und eine große Mitverantwortung der Kommunen. Denken Sie an die Trägerschaft von Krankenhäusern und Kliniken oder von Gesundheitsämtern in Landratsämtern. Und man meint ja so oft, dass ein zentral geführtes Land mit einer Regierung handlungsfähiger wäre. Frankreich ist sehr zentralistisch geführt, trotzdem hat Deutschland gezeigt, man kann auch durch Kooperation, durch Transparenz, durch guten Willen dieser drei Ebenen diese Lage gut durchstehen. Und ich finde, dass Deutschland vielleicht ein, zwei Wochen zu spät begonnen hat, aber seitdem hervorragend kooperiert. Und man kann sich als Bürger in Deutschland in diesen schwierigen Zeiten durchaus wohlfühlen und der Regierung vertrauen.
Hajo Schumacher: Wenn Sie mal nach Bayern schauen. Da gibt es Markus Söder mit einem eigenen Stil mit Corona umzugehen. Dann schauen Sie in den Westen, nach Nordrhein-Westfalen, da gibt es Armin Laschet, der vielleicht etwas lockerer damit umgeht. Und jetzt hat ausgerechnet der Linke Bodo Ramelow in Thüringen gesagt, hört auf mit eurem ganzen Regel-Kram, wir machen jetzt wieder so, als gäbe es gar kein Corona. Das sind natürlich schon drei unterschiedliche Arten damit umzugehen. Ist das ein Vorteil? Letztendlich sind das ja drei Labors, die man vergleichen kann?
Günther Oettinger: Man könnte Winfried Kretschmann ergänzen, der sehr stark die Meinungen der Kanzlerin umsetzt. Einerseits bilden sich die Bürger zuallererst aus nationalen Medien: Fernsehen, Tagesschau, nationale Zeitungen, soziale Medien. Das heißt, es kann verwirren, wenn man in 16 Ländern 16 unterschiedliche Lockerungsstrategien verfolgt. Umgekehrt ist die Lage in Sachsen-Anhalt und in Thüringen ganz anders als in Baden-Württemberg oder Bayern. Baden-Württemberg und Bayern sind am stärksten betroffen gewesen wegen ihrer Nähe zu Tirol und Südtirol. Nordrhein-Westfalen war stark betroffen wegen des Hotspots Heinsberg und Haseloff oder Ramelow verweisen nicht zu unrecht darauf, sie haben seit Tagen praktisch keine neuen Fälle mehr und sind Länder mit der geringsten Betroffenheit. Und deswegen, wenn man Bundesländer ernst nimmt, dann muss man ihnen auch gestatten, entlang ihrer Gefahrenentwicklung zu entscheiden, wie stark man noch Kontaktsperren, Abstandsgebote, Maskenpflicht oder Kindergartenschließungen fortsetzt, oder wie stark man wieder in die normale Dienstleistung und in den normalen Alltag zurückkehrt.
Hajo Schumacher: Finden Sie das riskant was Bodo Ramelow macht? Also ich meine, der kann ja als der große Held in vier, sechs Wochen dastehen, oder als der große Loser. Wie bewerten Sie das? Finden Sie das mutig? Oder riskant?
Günther Oettinger: Ich finde es etwas zu mutig. Er hat ja auch einen Teil zurückgenommen. Aber umgekehrt, jede Lockerung in allen deutschen Ländern, nicht nur in Thüringen, auch in anderen deutschen Ländern, ist mutig, ist eine Chance, um den Alltag und die Wirtschaft wieder etwas zu normalisieren. Und eine riskante Geschichte, denn Virologen hätten ja am liebsten den Lockdown in seiner massiven Form von Anfang April noch weit in den Mai und Juni hinein fortgesetzt.
Hajo Schumacher: Wir erleben jetzt - man kann ein bisschen schwer einschätzen, wie viele es sind - aber durchaus ernstzunehmende Stimmen, die sagen, wir wollen unsere Grundrechte zurück, wir wollen unsere Bewegungs- und Versammlungsfreiheit wieder, wir wollen keine Masken. Das sind häufig Menschen, die als Verschwörungstheoretiker oder Irre abgestempelt werden. Die gibt es natürlich, wenn man sich an einen ehemaligen Musiker erinnert, der vielleicht zu viel Cannabis konsumiert hat, einen veganen Koch, der vielleicht hin und wieder mal ein Schnitzel hätte essen sollen. Nehmen Sie die Leute ernst, die mit der Politik der Kanzlerin und der Virologen nicht zufrieden sind? Und wie kriegen wir die wieder eingefangen für das normale politische System?
Günther Oettinger: Die muss man schon ernst nehmen, die sind Teil des politischen Systems. Aber ich würde sie in drei Gruppen aufteilen. Die eine Gruppe, das sind die Verschwörungstheoretiker, die glauben, dass Bill Gates schuld sei. Was für ein Schwachsinn.
Hajo Schumacher: Die gab es immer schon. Also diese Gruppe hatte immer einen Anlass, irgendeine Verschwörung zu wittern.
Günther Oettinger: Das stimmt. Es ist nur besonders makaber, dass Bill Gates und seine Frau, die ja aus dem Privatvermögen und ihrer Stiftung hunderte von Millionen investiert haben, um derartige Seuchen zu bannen und die auch schon vor Jahren davor warnt haben, die in Davos zwischen 16 und 17 Round Tables organisiert haben, um künftigen Seuchen gegenüber gewappnet zu sein, dass die jetzt im Mittelpunkt dieser Aggression stehen. Also, abgehakt. Die zweite Gruppe, das sind die, die ich sehr ernst nehme. Das sind die, die sagen, wir wollen unsere Grundrechte wahrnehmen, Berufsfreiheit, wir wollen unsere Oma besuchen, wir wollen, dass man einen Sterbenden begleiten kann und wir wollen, dass die Öffnungen, die Lockerungen schneller gehen. Die nehme ich sehr ernst. Und da ist die Politik begründungspflichtig, dass sie täglich die Abwägung vornimmt zwischen diesen Grundrechten: Freiheit, berufliche Ausübung oder aber Betreuung von Kindern einerseits und den notwendigen Einschränkungen andererseits. Die muss man täglich neu begründen. Denn die Regel ist die Freiheit. Die Ausnahme ist die Einschränkung und die Ausnahme ist begründungspflichtig. Und die dritte Gruppe, das sind Provokateure, die demonstrieren und den Abstand nicht einhalten und keine Masken tragen. Das finde ich genauso unerträglich. Oder Polizisten bespucken, oder alles tun, um zu provozieren. Gegenüber diesen Demonstranten muss die Politik und muss die Polizei den wachsamen und wehrsamen Staat behaupten.
Hajo Schumacher: Rückblickend ist man immer schlauer, aber war für Sie die Idee der Kanzlerin, ihr gesamtes Vertrauen insbesondere einem Virologen - in diesem Fall Professor Drosten - zu geben, oder hätte man sich vielleicht ein Gremium vorstellen können, wo drei, vier verschiedene Stimmen drin sind. Was hätten Sie gemacht, wenn Sie Kanzler gewesen wären?
Günther Oettinger: Es liegt nahe, dass man erstmal schaut, wer sind die anerkannten Fachleute, wer sind die erfahrensten, wo sind die Institute, die höchstes Ansehen genießen? Und die Charité ist nun mal ein Klinikum, zumal auch in Berlin gelegen, der Maximalversorgung und höchster Exzellenz. Und es kamen dann ja rasch andere Virologen hinzu, nämlich die, die von Länderregierungschefs als Ratgeber hinzugezogen wurden. Und wenn Sie abends die Talkshows anschauen, ich kenne jetzt schon acht oder neun Virologen, die ich vorher nicht gekannt habe und die zum Teil auch streiten. Ich glaube, es ist längst eingetreten, dass die Fachleute, dass die Wissenschaftler, dass die in diesem Feld tätigen Forscher längst bemüht sind, sich im Wettstreit um den richtigen Weg und die beste Beratung zu begeben.
Hajo Schumacher: Die Bürger wollen aber Klarheit, die wollen eine klare Handlungsanweisung. Die wollen nicht dieses „vielleicht“, „könnte“, „die Wahrscheinlichkeiten sprechen dafür“. Da müssen wir, gerade auch wir Medien, die wir gerne schwarz oder weiß hätten, wieder lernen mit dieser Ungewissheit zu leben.
Günther Oettinger: Es gibt Krankheiten oder auch Unfälle, die sind glasklar. Wenn Sie beim Skifahren einen Kreuzbandriss haben, dann gibt es gute Gründe, warum man entweder operieren soll, oder nicht operieren soll, warum man einen Gips braucht, oder keinen Gips braucht. Und das vermitteln dann eigentlich alle Chirurgen in Europa in die gleiche Richtung. Aber dieses Corona-Virus ist eben unbekannt und ist letztendlich für alle, nicht nur für die Bürger, nicht nur für die Medien, auch für die Wissenschaft etwas, wo man sucht, wo man forscht, wo man täglich lernt. Wir sind doch seit zehn Wochen eine lernende Gesellschaft. Die Wissenschaftler, die Politiker, die Medien, die Bürger – wir lernen jeden Tag dazu und ich glaube, dass man dann auch Fehler eingestehen kann, weil man, wenn man dazu gelernt hat, klüger ist. Das ist auch kein Makel, deshalb finde ich es gut, wenn einige in der Politik auch sagen, wir haben alle Gründe, um später einmal über Fehler zu sprechen.
Hajo Schumacher: Wir haben ja vor Corona ein interessantes Verfahren für ihre Partei auch neu erlebt. Drei Menschen haben sich für den Parteivorsitz und damit auch die Kanzlerkandidatur beworben. Die Herren Laschet, Spahn und Friedrich Merz. Was hat sich da in den letzten drei Monaten verändert. Gabor Steingart hat gestern sieben Gründe genannt, warum Friedrich Merz raus ist aus dem Rennen. Jens Spahn ist auch... man hätte ihn sich ein bisschen präsenter vorstellen können vor der Krise. Eigentlich denkt man, Frau Merkel muss nochmal antreten. Oder was ist Ihre persönliche Rangliste? Oder kommt Markus Söder noch aus dem Bayerischen Wald?
Günther Oettinger: Das hat die Kanzlerin, glaube ich, entschieden, dass sie solange die Koalition hält und solange CDU, CSU und SPD sie als Kanzlerin tragen, sie das Amt ausübt, am besten bis zum Ende der Periode und über vorgezogene Neuwahlen spricht da niemand mehr. Wir werden im September nächsten Jahres reguläre Wahlen haben. Aber ich bin mir sicher, die Kanzlerin wird nicht weitermachen. Sie hat, glaube ich, sehr genau gelernt, was Helmut Kohl am hinteren Ende vielleicht falsch gemacht hat und wird deswegen in Ehren ausscheiden. Man kann die Frage stellen, war der Rücktritt von Annegret Kramp-Karrenbauer notwendig? Im Lichte der Corona-Virus-Krise, was die Thüringen-Krise und was die CDU in Thüringen gemacht hat, im Grunde genommen eine Lappalie. Aber sei’s drum, deswegen gibt es jetzt im Dezember in Stuttgart einen Parteitag, an dem entweder Armin Laschet oder Norbert Röttgen oder Friedrich Merz Parteivorsitzender der CDU wird. Und derjenige, der gewählt wird, wird dann nach Weihnachten mit dem Parteichef der CSU darüber beraten, mit welcher Mannschaftsaufstellung und welchen Kandidaten wir am besten in die Bundestagswahl gehen, also eine Zwei-Schritt-Veranstaltung. Klar ist, hätten wir nicht Corona-Virus, hätten wir jetzt jedes Wochenende Landesparteitage von regionalen Verbänden, Kongresse der Wirtschaft, Gewerkschaftskundgebungen oder auch große Debatten über Steuerpolitik, Wirtschaftspolitik, über Gesellschaftspolitik, über Klimaschutz und in denen würden dann die drei Kandidaten vorkommen. Im Augenblick kommen sie als Wahlkämpfer nicht vor, wenn dann nur indirekt vor. Im Augenblick ist der gefragt, der ein Amt hat, der ein Land führt, der ein Ministerium führt und deswegen ist im Augenblick die Stunde von Armin Laschet und Markus Söder und nicht die von Röttgen oder Merz.
Hajo Schumacher: Das private CDU-Mitglied Günther Oettinger. Wer wäre denn Ihr Favorit. Wer hätte die besten Chancen? Bisschen schwer zu sagen, wie die Stimmung im Land sein wird in einem Jahr, aber was sagt Ihr Bauch und vielleicht Ihr Herz?
Günther Oettinger: Ich habe ja aus meiner Unterstützung für Friedrich Merz vor zwei Jahren keinen Hehl gemacht. Ich kenne ihn seit Jahrzehnten. Ich mag ihn und schätze ihn, ich schätze seinen Wirtschaftssachverstand. Ich war damals nicht gegen Annegret Kramp-Karrenbauer, aber für Friedrich Merz. Und Ihre Frage würde ich gerne im November oder Dezember beantworten.
Hajo Schumacher: Da haben wir jetzt schon mal einen Termin, dass Sie mir da nicht ausbüchsen.
Günther Oettinger: Keiner weiß, welches Profil, welche Stärken und Schwächen auf dem Weg ins neue Jahr gefragt sind. Keiner weiß, welche Rolle das Corona-Virus noch spielt, keiner weiß, wie wir in Rezession verharren oder durchstarten. Deswegen finde ich es gut, dass wir gesagt haben, nicht jetzt im September wird gewählt, sondern zum Jahresende. Und dann werden wir mit Sicherheit den besten Ausblick wagen können, um Ihre Frage als CDU Deutschlands und dann im Januar mit der CSU zu beantworten.
Hajo Schumacher: Also Sie sind raus? Sie kommen jetzt nicht noch irgendwann im Spätsommer und sagen „hey“?
Günther Oettinger: Keine Sorge, ich fühl mich wohl. Ich war gerne in der Politik (schmunzelt).
Hajo Schumacher: Lassen Sie uns auf die europäische Ebene kommen. Das Kabinett hat gerade klare Signale gegeben, dass die Lufthansa mit Staatsknete unterstützt wird. Ist das eine europäisch kompatible Entscheidung oder muss man da in Brüssel nochmal ein bisschen antichambrieren.
Günther Oettinger: Die Europäische Kommission hat jetzt die Verpflichtung, nicht nur das Recht, die Pflicht, zu prüfen, ob Staatsbeihilfen mit dem europäischen Wettbewerbsrecht und mit einem fairen Wettbewerb vereinbar sind. Und das macht die Kommission tagein tagaus und in diesen Tagen umso mehr, rund um die Uhr. Da geht es um Kredit, aber es geht auch um Beteiligungen. Bei Air France und KLM geht es bisher nur um Kredite des französischen Staates und des holländischen Staates. In Deutschland geht es um eine Aktienbeteiligung und die muss geprüft werden und die Prüfung darf man nicht unterschätzen. Umgekehrt muss, glaube ich, in Brüssel gesehen werden, Lufthansa steht nicht primär im Wettbewerb zu Alitalia oder nicht nur zu Ryanair, sondern es geht um die Zukunft der weltweiten Luftfahrt und hier wird es einmal zehn große Player geben. Meine Wette ist, es wird zwei Amerikaner geben 20/30, es wird zwei Chinesen geben 20/30, zwei weitere Asiaten, zwei aus Middle East – meinetwegen aus Katar oder Saudi-Arabien oder Türkei – und vielleicht zwei Europäer. Und wenn die Europäer in diesem weltweiten Wettbewerb eine Rolle spielen wollen, dann nur mit einer starken Lufthansa. Und deswegen geht es hier um eine Marktdefinition. Der Markt der Luftfahrt von morgen ist nicht der deutsche, und nicht nur der europäische, es ist der Weltmarkt. Und deswegen sollte man diese Hilfen für Lufthansa auch als Teil einer klugen europäischen Industriepolitik sehen, vielleicht gewisse Auflagen machen, aber sie im Ergebnis akzeptieren.
Hajo Schumacher: Hier wiederholen sich die großen Fragen, die sich bei Siemens/Alstom eigentlich auch schon gestellt haben. Wollen wir einen europäischen oder den Weltmarkt im Blick haben?
Günther Oettinger: Exakt. Und beim Thema Fahrzeuge auf der Schiene, Schnellfahrsysteme und Signaltechnik ist der Markt noch nicht völlig ein Weltmarkt, aber wird ein Weltmarkt. Die Chinesen werden in Europa angreifen. In der Luftfahrt ist er schon ein Weltmarkt, deswegen ist die Lufthansa mit Turkish Airlines oder mit den Chinesen oder mit Delta oder mit anderen Amerikanern im Wettbewerb und dafür müssen wir sie stärken.
Hajo Schumacher: Es geht ja auch ein bisschen darum, soll man Unternehmen, die Dividenden auszahlen trotzdem mit Staatsgeld fördern. Wie stehen Sie dazu?
Günther Oettinger: Da bin ich auf einer strengen Linie. Wenn der Staat hilft, dann kann in der Zeit der Aktionär nicht im Mittelpunkt stehen, deshalb halte ich Dividenden für nicht statthaft. Und auch Boni für Vorstände und leitende Angestellte. Das heißt, hier ist, glaube ich, die Linie konsequent, der Staat hilft und in dieser Zeit sind nicht Aktionäre und Vorstände, sondern die Stärkung der Company im Vordergrund.
Hajo Schumacher: Wir haben gerade vorvergangene Woche ein gigantisches Rettungspaket vernommen, was Angela Merkel und Emmanuel Macron gemeinsam auf den Weg bringen wollen. 500 Milliarden Euro. Es gibt nicht nur Menschen, die begeistert sind. Es gibt die vier Widerständler, die vier europäischen Staaten, die dagegen sind, und es gibt durchaus ernstzunehmende deutsche Kommentatoren, die sagen, das ist ein Systemwechsel, wir bewegen uns Richtung Vergemeinschaftung der Schulden, was wir ja immer verhindern wollten. Wie sehen Sie dieses Paket, Herr Oettinger?
Günther Oettinger: Ich halte die Größenordnung für angezeigt und notwendig. Zum zweiten ist klar, dass Spanien und Italien und Griechenland besonders betroffen sind. Zum einen vom Corona-Virus in Spanien und Italien zum zweiten durch den Ausfall des Tourismus, der eine ganz starke Branche in diesen Ländern ist und den wir auch immer gerne genutzt haben. Deswegen sind europäische Mittel, die im Schwerpunkt dorthin fließen, richtig. Aber umgekehrt müssen wir uns klar machen, dass Schulden Schulden sind. Auch Schulden, die wir in Europa aufnehmen, werden von 440 Millionen Europäern eines Tages zurückbezahlt werden müssen. Deswegen, wenn nun einer glaubt, die Schuldenlast der europäischen Länder erhöhe sich nicht, das ist falsch. Die Märkte, die uns Geld geben, da müssen wir alle Schulden betrachten auf regionaler, lokaler Ebene, nationaler Ebene und auf europäischer Ebene. Ist dies für die Bürger Europas tragfähig? Ich glaube, es ist noch tragfähig, aber wir müssen aufpassen. Und ich glaube, dass ein Rückzahlungsplan, ein Tilgungsplan notwendig wäre. Ich würde mir wünschen, dass alle, die in diesen Tagen Schulden aufnehmen, klar aufzeigen, wie und wann werden die Schulden getilgt, denn im Augenblick verschulden wir uns zulasten unserer Kinder und Enkelkinder. Und die nächste Seuche kommt nicht erst in 30 Jahren. Außerordentliche Krisen oder Seuchen kommen in drei, in fünf, in zehn Jahren, deswegen sind Schulden, die man für 30 Jahre aufnimmt im Grunde genommen schwer vertretbar und bedürfen eines klaren Schuldentilgungsplans.
Hajo Schumacher: Aber grundsätzlich stehen Sie hinter dieser Idee?
Günther Oettinger: Ja, ich stehe hinter dieser Idee. Zu bedenken, dass man die 500 Milliarden nicht vollständig als verlorenen Zuschuss braucht, sondern auch ein Teil davon in Form von Krediten ausgereicht werden kann, aber das wird mit Sicherheit im Europäischen Rat im Juni beraten werden. Ich erwarte, dass die 27 Staats- und Regierungschefs, auch wenn die Kommission morgen ihren Vorschlag gemacht hat, bereit sind, zu Kompromissen zu kommen und sich zu einigen, und damit die Handlungsfähigkeit und Handlungsfreiheit Europas zu beweisen.
Hajo Schumacher: Sie waren Energie-Kommissar, Sie waren Digital-Kommissar und Sie waren Haushaltkommissar in Brüssel, Herr Oettinger. Richtig? Habe ich was vergessen?
Günther Oettinger: Stimmt.
Hajo Schumacher: Corona, sagen ja viele – das finde ich ein ganz schlaues Bild – ist so eine Art Brennglas. Also wo Corona ist, sieht man Probleme deutlicher, siehe Deutschland und die Digitalisierung. Auf Brüssel bezogen, von dort aus die Welt betrachtet, welche Probleme oder vielleicht auch Chancen haben Sie in den letzten zehn Wochen für Europa durch Corona gesehen? Rückt da wieder was zusammen?
Günther Oettinger: Wir können Lehren ziehen aus Corona, das ist eine Chance. Zum einen, dass wir in der Forschung verstärkt zusammenarbeiten müssen. Die besten Labore, die besten Forscher gemeinsam, dann sind wir mit den USA und China wettbewerbsfähig. Zum zweiten haben wir gemerkt, wie wichtig für uns Schengen ist. Die Bereitschaft und die Möglichkeit grenzüberschreitend zu wohnen, zu arbeiten, zu leben, einzukaufen. Für die Luxemburger, für die Bürger am Oberrhein war es besonders schmerzlich, dass sie Grenzen vorfanden, die geschlossen waren oder wo strenge Kontrollen stattfanden. Das heißt, diese Personenfreizügigkeit ist ein hoher Wert, den wir jetzt nach Corona sicher mehr schätzen als davor, wo wir geglaubt haben, das wäre selbstverständlich geworden. Und zum dritten, ich glaube, dass Corona auch zeigen muss, der Nationalstaat ist nicht alles, sondern wir brauchen eine stärkere Europäische Union. Da machen die Ankündigungen der Kanzlerin Mut. Ich glaube, wir werden im Laufe des Jahrzehnts eine Vertragsmodernisierung brauchen und eine stärkere Europäische Union.
Hajo Schumacher: Meine sehr verehrten Zuschauenden, falls Sie Fragen an Günther Oettinger haben, immer her damit. Vielleicht liegt es auch an mir, dass ich technisch nicht ganz versiert bin. Mich hat auf jeden Fall noch keine erreicht. Vielleicht macht Roland Vestring mal eine Test-Frage, damit wir kucken, ob die Technik funktioniert. Nicht, dass da irgendwo ein Stapel Fragen liegt und ich habe die noch gar nicht gesehen. Herr Oettinger, Sie haben...Es ist ganz interessant, es gibt so eine Zwei-Jahres-Regel, wenn man Kommissar war, dann müssen Sie zwei Jahre lang ins Abklingbecken, beziehungsweise immer die Kommission fragen, ob Sie denn das machen dürfen, was Sie da machen. Zum Beispiel mussten Sie um Erlaubnis fragen, ob Sie im Förderbeirat des Landesmuseums Baden-Württemberg ehrenamtlich dienen dürfen. Dem wurde zugestimmt. Nun haben Sie einen anderen, angeblich auch ehrenamtlichen Posten, Sie sind nämlich Leiter des ungarischen Innovationsrates. Ungarn, tolles Land, viele Deutsche sind gerne am Plattensee zum Urlaub machen unterwegs. Gleichzeitig gibt es da einen Regierungschef, von dem der ein oder andere sagt, der ist jetzt nicht so richtig das, was man sich in Brüssel als Muster-Mitglied wünschen würde. Es geht insbesondere um Rechtsstaatsverfahren gegen eine von George Soros finanzierte Universität, das ist auch so ein Wohltäter wie Bill Gates. Wie kriegen Sie das hin, für den ungarischen Innovationsrat zu arbeiten und Herr Orban irrlichtert gerade so ein bisschen durch Europa?
Günther Oettinger: Dieser Wissenschaftsrat hat ja eine ganz konkrete Aufgabe: Die Wissenschaft in Ungarn zu fördern und die Partnerschaft Industrie und Hochschulen und Forschung zu stärken. Und ich glaube, diese Ziele sind in unserem allgemeinen Interesse. Ich habe als Baden-Württemberger zu Ungarn seit 1990 Kontakte. Wir haben die ungarische Regierung 1990 beraten, wie man Verwaltung aufbaut. Wir haben eine Hochschule in Budapest immer finanziell gefördert. Es gibt viele Unternehmen aus Deutschland, die sind in Ungarn investiert, produzieren in Ungarn, trotz oder mit Herrn Orban, Mercedes-Benz, Audi, Bosch und viele andere mehr. Und ich glaube, dass man ein noch immer relativ armes Land, aber aufstrebendes Land, in Sachen Wissenschaft stärken soll, egal, wer regiert. Und dass ich für Wissenschaftsfreiheit eintrete, und dass die Forschung nicht von der Politik gelenkt werden darf, sondern von der Politik gefördert werden muss, ist für mich unstrittig. Das habe ich in Baden-Württemberg bewiesen und mit diesem Ethos bin ich bereit, in diese Aufgabe zu gehen. Das liegt derzeit in Brüssel und wird geprüft und dann warte ich ab, was das Ergebnis sein wird.
Hajo Schumacher: Wie muss man sich das vorstellen? Sie kommen dann mal bei Frau von der Leyen im Büro vorbei und sagen „Hallo Ursula, ich hätte da in Ungarn so einen Job“ und sie sagt „Günther, das muss doch nicht sein“. So ungefähr?
Günther Oettinger: Nein, da gibt es klare Regeln.
Hajo Schumacher: Na, kommen Sie, Sie kennen sich seit Jahrzehnten, Frau von der Leyen und Sie.
Günther Oettinger: Ja, aber trotzdem gibt es klare Regeln. Ich muss beim Generalsekretariat anzeigen, welche Aufgabe ich annehmen will und zwar acht Wochen bevor sie überhaupt losgehen kann. Und dann prüfen sie diese Juristen dort. Wenn es ethische Fragen gibt, dann kommt eine Ethik-Kommission von drei unabhängigen Persönlichkeiten hinzu und gibt Rat und dann wird entschieden. So läuft das seit Wochen und das gilt für mich und für alle anderen Kollegen, die in der Juncker-Kommission gewesen sind und jetzt neue Aufgaben angehen wollen.
Hajo Schumacher: Lassen Sie uns doch mal zu Oettinger Consult kommen, jetzt in der Schlussrunde. Wie muss man sich Ihre Arbeit vorstellen? Kommt da ein großes Unternehmen und sagt, Herr Oettinger, Sie kennen sich gut aus in Europa, wir würden jetzt gerne in Slowenien investieren, können Sie uns da helfen? Oder wie sind so konkrete Fälle? Wie muss man sich das vorstellen?
Günther Oettinger: Noch bin ich nicht operativ tätig. Der Antrag, ob ich Geschäftsführer werden kann, wird in den nächsten Tagen entschieden. Aber ich habe natürlich eine Fülle von Anfragen, Projekte zu begleiten, oder ein Startup zu beraten, oder aber einzuschätzen, wie sich Märkte entwickeln in Europa und der Welt. Im Grunde genommen sind wir eine ganz normale Consulting. Die Erfahrung, die ich in Wirtschaft als Geschäftsführer einer Wirtschaftsprüfung vor Jahrzehnten gewonnen habe, die ich als Partner einer Wirtschaftsprüfung gewonnen habe und die ich aus der Politik und Verwaltung mitnehme, die für die Unternehmen und ihre Zukunft einzubringen.
Hajo Schumacher: Hier ist eine Frage von Frau Götz, vielen Dank dafür. Herr Oettinger, Sie waren auch Digitalkommissar. Was haben Sie aus Corona in Sachen Digitalisierung für Deutschland im Speziellen, aber auch für Europa gelernt? Sie waren ja immer Verfechter einer europäischen Digital-Strategie. Also ein bisschen mehr Unabhängigkeit vom Silicon Valley. Hat sich das jetzt nochmal bestätigt in den letzten Monaten?
Günther Oettinger: Die Aufholjagd in Sachen digitale Technologien, Kompetenzen und Infrastruktur muss massiv beschleunigt werden. Wir brauchen Glasfaser auch in die entlegensten Orte und wir brauchen 5G. Wir müssen, glaube ich, unsere europäische digitale Souveränität stärken. Wir sollten auch soziale Medien und Plattformen haben, die in Europa zu Hause sind, nicht um die anderen auszuweisen, abzulehnen, sondern um unsere Unabhängigkeit zu stärken und den Wettbewerb zu stärken. Und dann geht es auch darum, dass wir von der Verwaltung angefangen, vom Rathaus angefangen und den Schulen nachrüsten müssen. Wir haben ja schmerzlich gesehen, ich habe das bei meinem Sohn gesehen, der digitales Studium jetzt praktiziert, wir waren auf diese aktuelle Lage nicht vorbereitet. Und die wird wiederkehren. Home-Office, unser jetziges Gespräch, Zoom wäre bis vor 12 Wochen nicht praktiziert worden.
Hajo Schumacher: Die Datenschützer hätten es uns verboten.
Günther Oettinger: Mag auch sein. Ich glaube, wir müssen jetzt alle sehen, Investitionen in digitale Infrastruktur sind wichtiger als in Straße oder Schiene oder andere Infrastrukturen.
Hajo Schumacher: Sie sagen das immer so: Digitalstruktur. Man hat den Eindruck, dass - ich glaube Herr Brüderle hat Anfang der 00er Jahre schon die erste Digitalstrategie als Wirtschaftsminister aufgelegt. Seitdem wird das mit jeder neuen Koalition wieder betont und wieder nach vorne gebracht. Herr Altmaier mit seiner durchaus verdienten GAIA-Strategie, alles prima, trotzdem hat man den Eindruck, es kommt nicht richtig voran. Wo ist für Sie gerade das Nadelöhr oder der Flaschenhals? Ist das die Telekom, die erstmal ihre Investitionen wieder zurückholen will? Ist das der Föderalismus? Wenn Sie der Kanzlerin Rat geben könnten, Drei-Punkte-Plan, Digitalisierung in Deutschland. Was wäre der Oettinger-Plan?
Günther Oettinger: Die Telekom ist ja nicht die Caritas, das heißt die stellt dort Masten auf, wo ein Geschäftsmodell dahintersteht.
Hajo Schumacher: Also nicht an jeder Milchkanne.
Günther Oettinger: Exakt. Und deswegen glaube ich, dass dies eine indirekte Aufgabe der Daseinsvorsorge sein muss. Wir brauchen ein Milliardenprogramm um dort wo Telekom, Vodafone oder die anderen Anbieter nicht investieren, die entsprechende Lücke durch Steuergelder geschlossen wird. Zum zweiten würde ich gerne, zumindest den Älteren, uns allen, Gutscheine geben, Weiterbildungsgutscheine für digitale Grundkompetenzen, die man einlösen kann bei kommerziellen Weiterbildungsunternehmen oder auch bei Volkshochschulen. Ich glaube, wir brauchen eine Weiterbildungswelle durch die Bevölkerung, damit niemand offline bleibt, sondern alle die neuen Möglichkeiten nutzen können.
Hajo Schumacher: Bildungsgutscheine, also ich würde da sofort...ich hätte da einige weiße Flecken in meiner Digitalbildung, die noch auszuleuchten wären. Meine Damen und Herren, ich sage bis hierhin ganz herzlichen Dank, lieber Herr Oettinger. Haben wir noch irgendwas vergessen, was sie loswerden wollen? Habe ich irgendwas nicht gefragt?
Günther Oettinger: Nein. Ich finde es klasse, dass in diesen Zeiten, dass Sie und das London Speaker Bureau dieses Angebot machen und ich wünsche dabei viel Erfolg. Und wenn Sie mich wieder brauchen: In zwei Wochen haben wir neue Themen, in vier Wochen erneut. Ich bin bereit, nochmal mitzuwirken.
Hajo Schumacher: Absolut. Ganz herzlichen Dank, Günther Oettinger.